Patientenzeitschrift "Mittelpunkt"

Für die Entwicklung neuer Krebsmedikamente ist nicht die Fassade, sondern das Innere der Krebszellen entscheidend. DNA-Analysen helfen, falsche Schlüsselmechanismen in Zellen zu entdecken, und verdeutlichen gleichzeitig, wie vielfältig eine einzelne Krebsart sein kann.

Immer wieder berichten die Medien über neue Entwicklungen in der Krebstherapie und die damit verbundenen Hoffnungen, den Krebs zu besiegen. In der Tat hat sich die Behandlung von Patienten mit einem Krebsleiden in der letzten Zeit stark verbessert, sei dies in der eigentlichen Therapie, der Reduktion von Nebenwirkungen oder der verbesserten Lebensqualität bei unheilbarem Krebs.

Die Fortschritte in der Behandlung gehen mit einem besseren Verständnis der Funktionsweise der Krebszellen einher. Seitdem es den am Human Genom-Projekt tätigen Forschern im Jahr 2003 gelungen ist, das Erbgut des Menschen vollständig zu entschlüsseln, wird es möglich, auch die Mechanismen der Entstehung von Krebs besser zu verstehen.

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Abb. 1
Ambulante onkologische Behandlungen werden direkt im OnkoZentrum Zürich durchgeführt.
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Abb. 2
Neue Medikamente werden gezielt auf einzelne Schlüsselmechanismen ausgerichtet.

Entscheidende Schlüsselmechanismen

Lange Zeit wurde die Einteilung der Krebsarten aufgrund der optischen, äusseren Erscheinung unter dem Mikroskop vorgenommen. Heute gelingt es, mit Methoden der Erbsubstanz-Analyse immer häufiger ins Innere der Zellen zu schauen. Da die Zusammensetzung der DNA die Funktion der Zellen im Allgemeinen und damit auch der Krebszellen charakterisiert, können durch die Analyse der Erbsubstanz wichtige Schlüsselmechanismen aufgedeckt werden. Krebszellen erfahren im Laufe ihrer Entwicklung Veränderungen der Erbsubstanz, welche gewisse Funktionsabläufe betonen oder unterdrücken. Aus diesem Grund finden sich solche krebsspezifischen Schlüsselmechanismen in dieser Ausprägung in den gesunden Zellen nicht.

Das Erkennen dieser Schlüsselmechanismen führt zu einer neuen Einteilung der Krebsarten, denn – wie schon im Titel erwähnt – ist nicht die Fassade entscheidend, sondern das Innenleben der Zellen. Der Krebs bekommt somit ein neues Gesicht auf der Basis von entscheidenden Wirkmechanismen. Falls diese Schlüsselmechanismen erkannt worden sind, können optimale Krebsmedikamente entwickelt werden. Diesen Medikamenten sollte es dann gelingen, eine grosse Wirkung und kaum Nebenwirkungen hervorzurufen.

Zellproteine im Fokus

Da die Erbsubstanz die Zusammensetzung der Zellproteine abschliessend bestimmt, spielen bei den Schlüsselmechanismen fehlerhafte Zellproteine eine entscheidende Rolle. Häufig sind fehlerhafte Zellproteine, die sich im Innern der Zellen oder an der Zelloberfläche befinden, übermässig aktiv und senden falsche Steuerungssignale. Die neu entwickelten Medikamente machen es möglich, diese überaktiven Zellproteine zielgerichtet zu hemmen.

Im Wesentlichen gibt es heute zwei Klassen von neuen Medikamenten, die nicht mehr als klassische Chemotherapeutika bezeichnet werden: Zum einen handelt es sich um künstlich hergestellte Proteine, oft auch Antikörper genannt. Diese werden als Infusion direkt in die Venen verabreicht und docken dann auf der Oberfläche der Krebszellen an. Da etliche Schlüsselmechanismen im Innern der Zelle durch solche Andockprozesse gesteuert werden, gelingt es, über diese Antikörper die Schlüsselmechanismen ganz oder teilweise zu blockieren.

Zum andern sind es künstlich konstruierte kleine Moleküle, die sich an die in der Regel viel grösseren Zellproteine anlagern und diese aktivieren oder blockieren. Diese kleinen Moleküle werden meist in Tablettenform eingenommen und über den Verdauungstrakt und die Blutbahn zu den Tumorzellen transportiert. Da sie so konstruiert sind, dass sie hauptsächlich an fehlerhafte Zellproteine andocken, haben sie ausserhalb des Tumorgewebes kaum Wirkung, sodass auch die Nebenwirkungen reduziert werden.

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Abb. 3
In Tablettenform eingenommene kleine Moleküle (a) docken an die krankhaft veränderten Proteine (b) an, welche Fehlinformationen in den Zellkern (c) ­leiten. Dadurch wird der Signalweg (d) gezielt unterbrochen. Alle übrigen, ­richtig funktionierenden Proteine (e) können ihre Information weiterhin zum Zellkern transportieren.

Artenvielfalt am Beispiel Lungenkrebs

Auch bei Lungenkrebszellen gelingt es immer besser, die Fehler in der Erbsubstanz zu erkennen, welche zu dominierenden Schlüsselmechanismen führen. Es kann beispielsweise vorkommen, dass die Erbsubstanz bei der Teilung der Zellen falsch zusammengebracht wird, sodass Teile der Erbsubstanz zusammengeschweisst werden, die nicht zusammengehören. Dadurch werden fehlerhafte Zellproteine konstruiert, die in der Folge falsche Steuerungssignale aussenden. Das sogenannte ALK-Fusionsprotein ist ein Beispiel eines falschen Steuerungssignals. Dieses ALK-FusionsproteinFusionsprotein: Zellprotein, welches aus Bestandteilen von zwei verschiedenen Proteinen besteht. Solche Proteine sind durch einen Fehler in der Erbsubstanz entstanden. hilft der Zelle, sich unkontrolliert zu teilen und in fremde Organe zu wandern, wo dann Tochtergeschwülste entstehen.

Nun ist es gelungen, ein Testverfahren zu etablieren, mit dem auf der Basis einer Gewebeprobe dieser Mechanismus der Krebszellen nachgewiesen werden kann, falls er vorhanden ist. Parallel dazu wurde ein Medikament, in diesem Fall ein kleines Molekül entwickelt, das gezielt das ALK-Fusionsprotein blockiert, sodass die Krebszellen – und fast nur die Krebszellen – in ihrer Funktion empfindlich gestört werden (Abb. 3).

Das Medikament verfügt über ein sehr gutes Wirkungs- / Nebenwirkungsverhältnis und ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Schlüsselmechanismen immer mehr in den Fokus der Behandlung gelangen. Doch längst nicht bei allen Lungenkrebspatienten ist dieser Schlüsselmechanismus aktiv, weshalb nach weiteren gesucht wird. Bislang ist es Forschern gelungen, bei Lungenkrebs zwei spezifische Schlüsselmechanismen zu erkennen, welche mit erhältlichen Medikamenten beeinflusst werden können. Weitere werden in naher Zukunft folgen.

Individualisierte Behandlung

Das obige Beispiel verdeutlicht auch stellvertretend für weitere Krebserkrankungen, dass der Verständnisgewinn in Bezug auf Tumorzellen nicht umfassend auf breiter Front erfolgt, sondern an eindeutig umschriebenen Einzelstellen erfolgreich ist. Die Forschung steht noch ganz am Anfang eines langen Weges. Doch die jüngsten Erkenntnisse sind prägend für die Entwicklung einer zielgerichteten und individualisierten Behandlung von Tumorleiden.

Interview mit Dr. med. Daniel Helbling

Krebszellen bauen in ihrem Erbgut die DNA um. Gibt es mit Blick auf die unterschiedlichen Krebsarten einen gemeinsamen Nenner?

Eine einzelne Zelle – auch eine Krebszelle – verfügt durchschnittlich über 21 000 Gene, welche in Proteine umgeschrieben werden. Die heutigen Forschungsergebnisse zeigen aber, dass nur etwa 50 –100 genetische Veränderungen die treibenden Kräfte für die Entstehung einer Krebszelle sind. Diese können wiederum in sogenannte Pathways zusammengefasst werden. Dies sind eine Art Signalwege oder Schlüsselmechanismen, an denen nicht nur ein einzelnes, sondern immer eine Gruppe von Genen beteiligt ist. Man dachte zuerst, dass man hier nie eine Übersicht erlangen könnte. Doch erstaunlicherweise haben Forscher am Beispiel des Bauchspeicheldrüsenkrebses erkannt, dass nur zirka 12 Signalwege krankhaft verändert sind.

Sind diese 12 Signalwege bei verschiedenen Tumoren identisch?

Die Signalwege bzw. die Schlüsselmechanismen sind ähnlich, nicht identisch. Aus diesem Grund kann beispielsweise bei Magenkrebs und bei Brustkrebs das gleiche Medikament wirken, wenn der Krebs auf diesem Schlüsselmechanismus beruht, den das Medikament gezielt angreift. Sind aber andere Schlüsselmechanismen bestimmend, wird das Medikament nichts nützen.

Das heisst, je nach Krebsart gibt es unterschiedliche Mechanismen.

Ja, ein Tumor kann durch verschiedene Schlüsselmechanismen genährt werden. Entscheidend ist bei der Behandlung daher, die treibenden Schlüsselmechanismen zu finden, und das ist denn auch die Schwierigkeit.

Worin unterscheiden sich die neuen Medikamente von der Chemotherapie?

Die neuen, nur wenige Jahre alten Medikamente sind gezielt auf einzelne Pathways ausgerichtet. Gelingt es daher, mit einem Medikament einen einzelnen Baustein zu blockieren, wird der Weg unterbrochen und die Tumorzelle sozusagen lahmgelegt. Da diese Medikamente sehr spezifisch sind, haben sie eine gute Wirkung und wenig Nebenwirkungen – vorausgesetzt, der richtige Schlüsselmechanismus wird getroffen. Die klassische Chemotherapie blockiert hingegen meistens die DNA bzw. den Zellkern, damit sich die Zelle nicht mehr unkontrolliert teilen kann. Die Zellteilung findet aber in allen, auch in den gesunden Zellen statt. Daher führt eine Chemotherapie zu mehr Nebenwirkungen.

Ist Krebs vererbbar?

Wir alle bringen ein genetisches Set-up der Eltern mit. Vererbte genetische Veränderungen können zu Krebs führen, und gewisse Krebsarten treten in der Folge familiär gehäuft auf. Wir wissen aber heute, dass dies den kleineren Anteil an Krebserkrankungen ausmacht. Der weitaus grössere Teil ist durch Umwelteinflüsse bedingt, weshalb aus meiner Sicht der Fokus auf die Vererbbarkeit falsch ist. Studien mit eineiigen Zwillingen, die über exakt identische Gene verfügen, belegen beispielsweise, dass bei einer Leukämieerkrankung des einen Zwillings der andere nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 % auch an Leukämie erkrankt. Dies beweist klar, dass Umwelteinflüsse wichtiger als vererbte genetische Veränderungen sind.

Welche Umwelteinflüsse sind schädlich?

Zu den schädlichen Umwelteinflüssen, die wir heute kennen, zählen Nikotin, Alkohol, Toxine. Die gängigsten Gifte sind Asbest und Schwermetalle. Doch ich bin überzeugt, dass wir viele schädliche Umwelteinflüsse noch gar nicht kennen, da wir über keine sinnvolle Methodik verfügen, um diese zu erfassen. Das Beispiel der Korrelation von Rauchen und Lungenkrebs verdeutlicht dies eindrücklich.

Warum?

Die Korrelation zwischen Rauchen und Lungenkrebs wurde erstmals in den 50er-Jahren postuliert. Viele haben dies zu jener Zeit aber für unmöglich gehalten. 60 Jahre später besteht überhaupt kein Zweifel mehr an einem direkten Zusammenhang. Über die Jahre konnte der abschliessende Nachweis erbracht werden, und diese lange Zeitachse ist unter anderem ein Problem für die Erfassung weiterer Risikofaktoren. Wir können heute noch nicht sagen, ob zum Beispiel Handystrahlungen wirklich krebsfördernd sind oder nicht. Erste Ergebnisse scheinen dies nicht zu bestätigen, doch da Krebs über Jahrzehnte entsteht, werden wir leider noch warten müssen, bis wir eine wirklich zuverlässige Antwort haben.

In welche Richtung geht die Forschung?

Nachdem es Forschern des Human Genom-Projekts gelungen ist, das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln und zu sequenzieren, wird dies auch für die einzelnen Tumorzellen möglich werden. Basierend darauf dürften weitere Schlüsselmechanismen gefunden werden, was die Entwicklung weiterer Medikamente ermöglichen wird. Dies wird die Behandlung der Krebspatienten revolutionieren – doch leider lässt die Vollendung dieser Revolution wahrscheinlich noch Jahrzehnte auf sich warten.

Besten Dank für das Gespräch.