Patientenzeitschrift "Mittelpunkt"

Verbesserungen der chirurgischen Techniken und Innovationen der Industrie haben in jüngster Zeit zu entscheidenden Veränderungen des operativen Vorgehens bei Erkrankungen der Schilddrüse geführt. Die wichtigsten Auflagen der Schilddrüsenchirurgie sind die Schonung des Stimmband- und des Kehlkopfnervs, der Erhalt der Nebenschilddrüsenfunktion, die Festigung eines korrekten Resektionsausmasses sowie die ästhetisch bestmögliche Schnittführung.

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Abb. 1
a. Tumorbefallener rechter Schilddrüsenlappen. In diesem Fall ist eine komplette Entfernung des Schilddrüsenlappens angezeigt. Dabei ist eine hochpräzise Freilegung und Schonung des Stimmbandnervs notwendig
b. Gesunder linker Schilddrüsenlappen, der verbleibt
c. Kehlkopf
d. Nebenschilddrüse
e. Kehlkopfnerv
f. Stimmbandnerv
g. Kontrollsonde mit Elektrode zur genauen Ortung des Stimmbandnervs während der Operation
h. Luftröhre
i. Aortenbogen mit Nervenschlaufen

Die Schilddrüsenchirurgie, eine der ältesten allgemeinchirurgischen Operationen, hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Heute zählt sie zur Spezialmedizin, die neu die Qualifikation von spezialisierten Chirurgen verlangt.

Im Mittelpunkt der chirurgischen Anforderung steht nach wie vor die Vermeidung von Schäden am Stimmbandnerv. Während man früher von Schädigungsraten von circa 10% und mehr ausging, spricht man heute von 1% und weniger. Im Idealfall ist es möglich, eine Stimmbandschädigungsrate zu erreichen, die gegen 0% tendiert. Basis hierfür ist die nachgewiesene Erfahrung von spezialisierten Schilddrüsenchirurgen und damit eine sicherere Präparation des Organs. Die Schilddrüsenchirurgie sollte heute nicht mehr mit blossem Auge, sondern unter Lupenvergrösserung und mit mikroskopischer Unterstützung erfolgen. Einen weiteren wesentlichen Fortschritt zum Schutz des Stimmbandnervs stellt die Anwendung des Neuromonitorings dar. Mit dieser Technik wird während der Operation die Nervenfunktion überprüft, um intraoperativ Nervengewebe von anderem Gewebe zu unterscheiden. Man kann heute davon ausgehen, dass das Problem der Stimmbandschädigung durch diese beiden Massnahmen im Wesentlichen gelöst ist. Leider wird aber der Kehlkopfnerv noch nicht ausreichend beachtet und geschont.

Erhaltung der Nebenschilddrüsen

Seit ein paar Jahren tritt der Schutz der Nebenschilddrüsen zunehmend in den Vordergrund. Im Zeitalter der gehäuften Osteoporose sind der Schutz und die Funktionserhaltung der vier kleinen Nebenschilddrüsen, die unmittelbar an der Schilddrüse anliegen, überaus wichtig. Sie sind verantwortlich für den Kalziumhaushalt des Menschen und bilden damit im Wesentlichen die Grundlage eines intakten Knochenbaus. Da der Ausfall der Nebenschilddrüsen für einen Patienten sicherlich einschneidender ist als eine einseitige Stimmbandlähmung, sollten alle Anstrengungen darauf gerichtet werden, ihre Funktion zu erhalten. Hierzu gehört die saubere, intraoperative Präparation und Identifikation der Nebenschilddrüsen, die sorgfältige Untersuchung des Schilddrüsenpräparates nach dessen Entnahme und ein eventuelles Reimplantieren der Nebenschilddrüsen in die Halsmuskulatur.

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Abb. 2
Patientin vor der Operation (links) und 1Jahr nach totaler Schilddrüsenentfernung (rechts). Es verbleibt lediglich eine kleine Operationsnarbe von 3cm. Der Hautschnitt wird kosmetisch bestmöglich platziert.

Vollständige Entfernung

Die Qualitätsbeurteilung der modernen Schilddrüsenchirurgie lässt sich nicht allein an der Rate der permanenten Stimmbandlähmungen oder der Ausfälle der Nebenschilddrüsen festmachen. Wichtig für den Patienten und die Prognose seiner Schilddrüsenerkrankung ist das Ausmass der Schilddrüsenresektion. Es scheint einfacher und sicherer, nur eine Teilentfernung der Schilddrüse vorzunehmen. Auf die Dauer führt diese veraltete Praxis jedoch zu hohen Rezidivraten und damit zu Zweiteingriffen, die die Rate von Stimmbandlähmungen beziehungsweise bleibenden Nebenschilddrüsenschäden erhöhen. Das Konzept der Teilresektion von Schilddrüsen, die Strumektomie, entspricht nicht mehr den internationalen Standards.

Demnach wird heutzutage bei einer einseitig knotig veränderten Schilddrüse immer der gesamte betroffene Schilddrüsenlappen entfernt. Bei beidseitig knotig veränderten Schilddrüsen wird eine beidseitige totale Schilddrüsenlappenresektion durchgeführt. Dank einer primären und gut geplanten Präparation des Stimmband- und des Kehlkopfnervs sowie der Nebenschilddrüsen ist eine permanente Schädigung dieser Strukturen viel seltener.

Zweite Beurteilung während der Operation

Die interdisziplinäre Absprache und das Zusammenwirken eines Teams, bestehend aus einem Chirurgen, einem Halschirurgen und einem Pathologen, verbessert eindeutig die Indikationsstellung zur Operation und verhindert unnötige Eingriffe. Dank der intraoperativen Beurteilung durch den Halschirurgen können die Sicherheit für den Patienten und die Qualität deutlich erhöht werden.

In den schwierigen Fällen von fraglichen Schilddrüsenkarzinomen wird das Team durch einen im Operationssaal anwesenden Pathologen und dessen mikroskopische Diagnostik komplettiert. Ein Zweiteingriff wegen übersehener Karzinome wird dadurch unnötig. Die Heilungschancen bei Schilddrüsenkarzinomen sind sehr gut. Da in den meisten Fällen jüngere Patienten betroffen sind, beträgt die Lebenserwartung mehrere Jahrzehnte. Durch eine sachgemässe interdisziplinäre Behandlung kann eine deutlich höhere Lebenserwartung als bei anderen bösartigen Tumorerkrankungen erreicht werden.

Kosmetische Wünsche berücksichtigen

Für Patientinnen und Patienten an oberster Stelle steht die kosmetisch günstige Anlage des Halsschnitts. Auch in der Schilddrüsenchirurgie hat die ästhetische, minimalinvasive Operationstechnik enorme Fortschritte gebracht. Statt eines früher 6 bis 10cm langen Zugangs genügt heute für die Schilddrüsenentfernung ein Schnitt von 2 bis 3cm, der zudem in die Halsfalte gelegt werden kann und praktisch unsichtbar bleibt. Schnittlängen über 3cm sind heute nur noch in wenigen Ausnahmefällen bei Karzinomen erforderlich.

Interview mit Prof. Dr. med. Claudio A. Redaelli

Was ist die häufigste Grunderkrankung der Schilddrüse?

Am häufigsten treten gutartige knotige Veränderungen der Schilddrüse auf. Nur rund 5% der Knoten sind bösartig. Jeder zweite Erwachsene über 50 Jahren leidet an knotigen Veränderungen der Schilddrüse oder an einer Schilddrüsenvergrösserung. Grund für diese Erkrankungen sind genetische Anlagen oder ein Jodmangel. Auch kommen Autoimmunerkrankungen wie die Autoimmunthyreopathie oder Morbus Basedow in Frage. Die grossen Kröpfe, die man von früher kennt, sind dank der Zugabe von Jod im Kochsalz nur noch ganz selten.

Wann wird eine Schilddrüsen-Operation erforderlich?

In drei Fällen wird operiert: 1. Bei Verdacht auf eine bösartige Veränderung, also bei Krebsverdacht. 2. Bei einer Überfunktion der Schilddrüse, die sich mit Medikamenten nicht behandeln lässt, und 3. Wenn Heiserkeit und Schluckbeschwerden durch den lokalen Druck auftreten.

Wie erfolgt die Diagnose?

In der Regel geht der Patient wegen spürbarer oder sichtbarer Knoten am Hals zum Hausarzt. Solche Knoten fallen ab circa 1cm auf, beispielsweise beim Rasieren. Sind sie kleiner, kann man sie noch nicht erkennen oder ertasten. Der Hausarzt veranlasst einen Ultraschall und eine Feinnadelbiopsie. Zeigt das entnommene Gewebe keine Auffälligkeit, wird der Knoten weiter beobachtet und eventuell später nochmals punktiert. Liegt eine bösartige Veränderung oder ein verdächtiger Befund vor, wird der Knoten operiert. Bei rasch wachsenden Knoten wird zusätzlich eine Szintigraphie durchgeführt, um die Zellaktivität zu bestimmen.

Erfolgt in jedem Fall eine vollständige Entfernung der Schilddrüse?

Ja. Entweder wird die gesamte Schilddrüse mit beiden Lappen entfernt oder nur einer der beiden Lappen, aber dieser in jedem Fall komplett. Früher wurden nur Teile davon herausgenommen. Grund dafür ist, dass bei einer vollständigen Entfernung des Schilddrüsenlappens deutlich weniger Rezidive auftreten und der Patient so nicht mehrfach operiert werden muss. Damit wird die erste Operation zur entscheidenden, und es ist erwiesen, dass diese Methode bessere Resultate erbringt. Die Vorgehensweise basiert auf den Empfehlungen der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft für Endokrinologie (CAEK), die sie seit etwa acht Jahren herausgibt.

Warum kann der Kehlkopfnerv weniger gut geschont werden als die Stimmbandnerven?

Weil er anatomisch feinere Strukturen aufweist und über dem Kehlkopf verborgener liegt als die Stimmbandnerven. Im Gegensatz zum Stimmbandnerv wird er selten für das Neuromonitoring präpariert, da er sehr sensibel ist. Deshalb ist es von grosser Wichtigkeit, dass der Operateur dem Kehlkopfnerv beim Eingriff Sorge trägt.

Was geschieht bei einer Verletzung der Nerven?

Wird der Nerv durchtrennt, ist die Schädigung dauerhaft, was aber heute glücklicherweise sehr selten vorkommt. Durch die Operation kann eine latente oder temporäre Stimmbandnervenreizung auftreten, die aber in wenigen Monaten wieder ausheilt.

Welche Aufgabe übernimmt der Halschirurg bei der Operation?

Eine der Aufgaben des Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten ist es, bei einer Krebserkrankung direkt am Operationstisch das Ausmass der Entfernung der Lymphknoten mitzubestimmen; er gibt dem Chirurgen eine «Second Opinion» ab; seine dritte Kernkompetenz ist die ästhetische Chirurgie. Als weitere Person ist ein Pathologe im Operationssaal anwesend, der das entnommene Gewebe sofort untersucht. In zahlreichen Fällen wird während der Operation ein Mikrokarzinom unter 1cm entdeckt, das sofort entfernt wird. Gemeinsam wird dann entschieden, ob eine vollständige Entfernung beider Schilddrüsenlappen erfolgen muss und ob die dazugehörigen Lymphknoten ebenfalls mitentfernt werden müssen. Diese Zusammenarbeit bringt den Vorteil, dass der Patient keine zweite Operation braucht.

Werden alle Fälle interdisziplinär betreut?

Ja, alle Fälle. Zu einem solchen interdisziplinären Team gehören ein Operateur, ein Halschirurg, ein Pathologe, ein Endokrinologe und für eine korrekte onkologische Mitbehandlung ein Krebsspezialist.

Wie verläuft die weitere Behandlung?

Nach der postoperativen Phase übernimmt der Endokrinologe die Nachbetreuung des Patienten in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt. Meistens bedarf es einer Schilddrüsenhormonsubstitution mittels Tabletten sowie regelmässiger Kontrollen. Heutzutage bedeutet das für den Patienten keine grosse Umstellung, da er wahrscheinlich schon vor der Operation Medikamente für die Schilddrüse einnehmen musste. Das synthetisch hergestellte Schilddrüsenhormon ist sehr gut verträglich und lässt sich anhand der Normwerte gut einstellen.

Warum fällt die Schilddrüsenoperation neu unter die spezialisierte Medizin?

Weil die Erfahrung gezeigt hat, dass es bei der Behandlung der Schilddrüse auf die Qualität ankommt; darum empfiehlt die CAEK, die Schilddrüsenchirurgie in die Hände von spezialisierten Chirurgen zu legen, die eine grosse Zahl an solchen Eingriffen vorweisen können. Dadurch ist eine qualitativ hochwertige Behandlung für den Patienten gewährleistet.

Besten Dank für das Gespräch.