"Neben unseren Patientinnen und Patienten gewinnen auch wir Experten daran"

Dr. med. Ulrich Kallenbach ist Facharzt für Anästhesiologie mit Schwerpunkt in der interventionellen Schmerztherapie und Vorstandsmitglied des Vereins "Wirbelsäulen-Forum Aargau". Im Interview erzählt er, wie Fachärzte und Physiotherapeuten im Wirbelsäulen-Forum zusammenarbeiten und wie Patientinnen und Patienten mit komplexen Rücken- und Schmerzproblemen davon profitieren.

Was waren die Beweggründe, das Wirbelsäulen-Forum Aargau zu gründen?

Dr. Kallenbach: Erkrankungen der Wirbelsäule sind häufig sehr komplexe Krankheitsbilder, die oftmals eine Abklärung und Behandlung von Fachärzten mehrerer Disziplinen erfordern. Dies wurde in Aarau schon früh erkannt. Bereits Ende der 1980er Jahre fanden regelmässig interdisziplinäre Besprechungen statt, anfangs meistens zwischen Rheumatologen und Wirbelsäulenchirurgen. Seit 1998 existiert das Wirbelsäulen-Forum in der heutigen multidisziplinären Form. In 2013 erfolgte die Gründung eines Vereins.

Wie viele Mitglieder zählen heute zum Wirbelsäulen-Forum Aargau?

Dr. Kallenbach: Inzwischen sind wir 23 Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen, von denen insgesamt 9 als Belegärzte an der Hirslanden Klinik Aarau akkreditiert sind. Unser Ziel ist es, dass bei jeder Fallbesprechung jeweils mindestens 1 Vertreter der «Kerndisziplinen» anwesend ist. Dazu zählen die Rheumatologie, Wirbelsäulen- und Neurochirurgie, Neurologie, interventionelle Schmerzmedizin, Psychiatrie, Versicherungsmedizin und Schmerz-Physiotherapie. In der Regel umfasst die Expertenrunde bei einer Fallbesprechung 7 bis 10 Fachpersonen.

Wie läuft eine Fallbesprechung im Wirbelsäulen-Forum ab?

Dr. Kallenbach: Wir treffen uns 1 bis 2 Mal im Monat, jeweils am Freitagnachmittag in Sitzungszimmern der Hirslanden Klinik Aarau. Zunächst gibt es eine interne Fortbildung in Form eines Kurzreferats. Danach beurteilen wir gemeinsam 5 Patientinnen bzw. Patienten. Jede Fallvorstellung dauert rund 45 Minuten. Dabei präsentiert der betreuende Arzt zunächst den Fall und formuliert seine Fragestellung. Dann werden die Patientin bzw. der Patient von der anwesenden Expertenrunde interviewt und von 3 bis 4 Ärzten und Physiotherapeuten in einem Nebenraum untersucht. Abschliessend diskutieren wir die Ergebnisse untereinander.

Wie sehen die Ergebnisse in der Regel aus?

Dr. Kallenbach: Häufig ergeben sich aus der interdisziplinären Beurteilung wichtige Anregungen für die Diagnosestellung und Ergänzungen in der Behandlung sowie versicherungsrechtliche Aspekte, wie Verfahren zur krankheits- oder unfallbedingten vorzeitigen Rente.

Und wann werden die Patientin bzw. der Patient darüber informiert?

Dr. Kallenbach: Der betreuende Arzt informiert den Patienten in der Regel innerhalb von 1 Woche im Rahmen einer Sprechstunde in seiner Praxis.

Können Sie ein Beispiel schildern, wie eine Patientin oder ein Patient von einer Fallbesprechung profitiert hat?

Dr. Kallenbach: Aber ja! Ich möchte sogar behaupten, dass die Mehrheit der vorgestellten Patientinnen und Patienten davon profitiert. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, da es sich bei unseren Fallbesprechungen eher um komplexe, also "schwierige" Krankheitsbilder handelt. Ich habe schon mehrere Patienten erlebt, bei denen im Forum entscheidende Hinweise für neue Differentialdiagnosen aufkamen, die mit drastischen Auswirkungen auf das Therapiekonzept einhergingen – etwa, weil Fragen nach seltenen neurologischen oder rheumatischen Krankheitsbildern auftauchten. Durchaus häufiger sind jedoch neue Einblicke in Krankheits-Dimensionen, die nicht zum engeren Fachgebiet des betreuenden Arztes gehören, sowie Folge- oder Begleiterkrankungen, die berücksichtigt werden müssen. Daraus können sich beispielsweise Anpassungen der bisherigen Physiotherapie ergeben oder Vorschläge zu Begutachtungs- oder beruflichen Wiedereingliederungsverfahren. Es sind gerade diese multi-dimensionalen Aspekte, die den Sinn unserer interdisziplinären Sitzungen ausmachen.

Kommt es auch einmal vor, dass Sie sich untereinander nicht einig sind?

Dr. Kallenbach: Natürlich. Es wäre ja fast tragisch, wenn es keine Diskussionen gäbe! Aber diese sind stets sachlich, kollegial und orientiert am Wohle der Patientin bzw. des Patienten. Narzisstische "Alpha-Männchen oder -Weibchen" wären bei uns fehl am Platz.

Wie kann ich mich als Patientin bzw. als Patient für eine Fallbesprechung im Wirbelsäulen-Forum anmelden?

Dr. Kallenbach: Die Patienten werden durch den betreuenden Arzt oder Physiotherapeuten angemeldet, der in der Regel zum Expertenteam des Wirbelsäulen-Forums gehört.

Muss die Patientin bzw. der Patient die Kosten selbst tragen, die im Rahmen der Fallbesprechung entstehen?

Dr. Kallenbach: Nein, zumindest nicht direkt. Wir verrechnen mit der Krankenkasse des Patienten einen Betrag für die interdisziplinäre Untersuchung. Aber dies ist durch die Grundversicherung gedeckt. Der Erlös geht übrigens nicht an die beteiligten Experten, sondern wird für gemeinsame Fortbildungen verwendet: So besuchen wir in der Regel alle 1 bis 2 Jahre gemeinsam Wirbelsäulen- oder Schmerzkongresse im Ausland. Diese schöne und seit rund 2 Jahrzehnten gepflegte Tradition dient ebenfalls der Pflege des Netzwerkes der Aargauer Schmerzspezialisten.

Das klingt tatsächlich so, als ob neben den Patienten auch alle beteiligten Fachpersonen vom Wirbelsäulen-Forum profitieren?

Dr. Kallenbach: So ist es! Auch wir Experten gewinnen daran. Zum einen dienen die regelmässigen Treffen unserer eigenen Weiterbildung. Zum anderen sind auch wir Ärzte dankbar, wenn sich bei einem Patienten mit bisher unbefriedigenden Behandlungsergebnissen neue Therapieansätze ergeben. Mehr noch: Die Plattform des Wirbelsäulen-Forums bietet aus unserer Sicht eine ideale Basis für ein wirbelsäulen- und schmerzmedizinisches Indikationsboard, also ein Gremium, das vor Operationen an der Wirbelsäule oder anderen schmerztherapeutischen Eingriffen deren Sinn interdisziplinär überprüft. Solche Gremien stellen ein zukunftsweisendes, qualitätssicherndes Konzept dar und werden zunehmend auch politisch eingefordert. Wir planen daher die baldige Ergänzung und Erweiterung unserer bisherigen Tätigkeit um diese Aufgabe.

Im Wirbelsäulen-Forum Aargau tauschen sich Fachärzte verschiedener Disziplinen regelmässig über die Behandlung komplexer Rücken- und Schmerzprobleme aus. Dazu gehören Fachärzte für Rheumatologie, Neurologie, Psychiatrie/Psychotherapie, Chirurgie, Schmerztherapie und Physiotherapeuten. Das Ziel ist es, durch einen interdisziplinären Ansatz den Patientinnen und Patienten die bestmögliche Behandlung anzubieten.

Dr. med. Ulrich Kallenbach
Facharzt für Anästhesiologie mit Schwerpunkt in der interventionellen Schmerztherapie und
Vorstandsmitglied des Vereins "Wirbelsäulen-Forum Aargau"