Hirslanden Fachartikel

Die Gestaltung der Prävention neu zu denken und sich von purer «Sickcare» in Richtung «Healthcare» zu bewegen, hat zukünftig höchste Priorität. Wie dies gelingen kann, weiss Dr. Anna Erat.

Interview: Gesundheitsguide, Tagesanzeiger 10. Dezember 2022.

Frau Dr. Erat, lang und gesund zu leben, ist unser aller Ziel. Zwischen Traum und Realität klafft jedoch oft eine Lücke. Woran liegt das?

Gesund zu leben ist nicht immer einfach, da sich Handlungsziele oft nicht praktisch umsetzen lassen. Dies liegt häufig daran, dass konkrete Umsetzungsabsichten dafür unzureichend formuliert werden. Auch fehlt es oft an der Begleitung beim Etablieren der Verhaltensroutinen. Jedoch lässt sich durch Aufklärung und motivierende Gespräche im Rahmen eines Check-ups mit anschliessendem Coaching und digitalen Hilfsmitteln ein gesunder Lebensstil unterstützen. Zudem können die Ärzte wichtige Themen zu psychosozialen Aspekten der Gesundheit und Depression angehen.

Welchen Einfluss hat die Weltgesundheitsorganisation, um eine gesunde Langlebigkeit zu fördern?

Langlebigkeit oder Longevity, womit gesundes Altern gemeint ist, gewinnt in der Gesundheitsprävention zunehmend an Bedeutung. So hat die WHO die Jahre von 2021 bis 2030 zur Dekade des gesunden Alterns erklärt. Menschen gehen nicht ausschliesslich zum Check-up, um Krankheiten zu vermeiden respektive diagnostizieren zu lassen, sondern auch, um die Gesundheit und Leistung im Alter zu optimieren. Wir bewegen uns in Richtung «Healthcare» und befassen uns nicht mehr nur mit «Sickcare». Die Rolle der WHO ist fundamental, um Longevity zu fördern. Zum einen sind die Aufklärungsarbeit und der Einfluss auf die Gesundheitspolitik wichtig. Zum anderen kann die WHO bei der Erarbeitung von Standards und für die Qualitätskontrolle eine wichtige Funktion einnehmen. Nicht zuletzt ist die WHO für die Gestaltung der Agenda der Gesundheitsforschung verantwortlich, was selbstverständlich auch Studien im Bereich Longevity betrifft.

Wie kann ein Umdenken, hin zu mehr Prävention, in der Praxis aussehen?

Die Prävention zahlt sich aus, wenn die Qualität der Check-ups stimmt. Genauso, wie eine verpasste Diagnose zu einer erheblichen Morbidität und Mortalität führen kann, kann auch eine Übertherapie höchst negative Auswirkungen haben. Daher geht es darum, die Check-ups durch kompetente Fachleute mit individuellem Screening und richtigem Timing durchzuführen. Es ist an der Zeit, die Gestaltung der Prävention neu zu denken. Das traditionelle Modell, in dem alles in der Arztpraxis standardmässig stattfindet, ist vorbei. Für die Patientenschaft werden künftig Coaching-Programme sowie das Einsetzen von Digital- und Telemedizin immer wichtiger. Auch sollte vermehrt auf individuelle Risikofaktoren und genetische Vorbelastungen sowie Lebensstil und Lebensraum geachtet werden. Hierbei helfen etwa durch Wearables und digitale Technologien erfasste Gesundheitsdaten.

Neben der künstlichen Intelligenz, die für die Datenanalyse immer wichtiger wird, rückt die Genmedizin vermehrt in den Fokus. Mit welchen Chancen?

Spätestens seit Angelina Jolies Bericht in der New York Times kennen die meisten das Brustkrebs-Gen BRCA 1. Genetische Untersuchungen nehmen seitdem nicht nur in der Krebsvorsorge sondern auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu. Diesbezüglich schauen wir zum Beispiel in der Sportmedizin, ob familiär Hinweise auf einen verdickten Herzmuskel oder Rhythmusstörungen, wie etwa hypertrophe Herzmuskelkrankheiten respektive das Brugada-Syndrom, vorliegen. Ergibt sich ein Verdacht auf erbliche Herzkrankheiten, können wir durch eine genetische Analyse rasch die Diagnose bestätigen und entsprechende Massnahmen einleiten. Bestenfalls können wir damit einen plötzlichen Herzstillstand auf dem Fussballfeld, wie wir ihn etwa bei Christian Eriksen bei der Fussball EM 2021 gesehen haben, vermeiden.