Hirslanden Fachartikel

In Genanalysen stecke viel Potenzial für die öffentliche Gesundheit, sagt Genetikerin Sabina Gallati. Man kann damit aber auch in ein Dilemma geraten.

Interview: CH Media vom 22. Februar 2022
Autorin: Deborah Stoffel
Bild: Andrea Zahler

Wenn Sie die Volksgesundheit anschauen: Wer sollte eine Genanalyse in Betracht ziehen?

Sabina Gallati: Grundsätzlich ist jede Krankheit die Kombination aus unseren Genen und der Umwelt. Dank der Genetik bekommen wir also ein vollständigeres Bild über unsere Gesundheit – in praktisch allen Krankheitsfeldern. Eine erhebliche genetische Komponente zeigt sich darin, dass Verwandte, Eltern oder Geschwister schon in relativ jungen Jahren erkranken. Neben Krebs sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein gutes Beispiel: Ein Herzinfarkt oder Schlaganfall bei Männern unter 55 oder Frauen unter 65 Jahren ist auffällig.

Was kann die Genetik in so einem Fall leisten? Das Risiko kennt man dann ja bereits.

Das Stichwort lautet Prävention. Die Kardiogenetik kann zum Beispiel sehr viel zur Vermeidung eines plötzlichen Herz­todes sowie einer koronaren Herzkrankheit beitragen. Insbesondere bei jungen Menschen. Zum Beispiel leidet rund eine von 200 Personen an genetisch bedingten, zu hohen Cholesterinwerten – eine sogenannte familiäre Hypercholesterinämie. In diesem Fall reichen eine gesunde Ernährung und viel Bewegung nicht. Kennt man das genetische Risiko, kann man die Ablagerung von Cholesterin in den Blutgefässen medikamentös verhindern, sobald der Cholesterinspiegel steigt. Im besten Fall kann so ein Herzinfarkt abgewendet werden.

Genanalysen formulieren in der Regel nur Wahrscheinlichkeiten – wie lassen sich daraus medizinische Massnahmen ableiten?

Genau, in vielen Bereichen gibt eine Genanalyse an, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person an einer Krankheit erkrankt, immer im Vergleich zum Vorkommen der Krankheit in der Allgemeinbevölkerung. Bei Krebserkrankungen zum Beispiel erkranken im Schnitt 4 bis 8 von 10 Personen, die eine genetische Veranlagung haben. Natürlich ist dieser Wert auch altersabhängig. Je älter man ist, desto höher ist das Risiko, zu erkranken. Bei anderen Erbkrankheiten ist es zu 100 Prozent sicher, dass sie ausbrechen werden, Zeitpunkt und Verlauf lassen sich jedoch nicht voraussagen. Beispiele dafür sind Krankheiten, die bereits kurz nach der Geburt oder während der ersten Lebensjahre diagnostiziert werden, wie die Duchenne-Muskeldystrophie oder die zystische Fibrose.

Was bedeutet das für die Betroffenen?

Das ist je nach Krankheit unterschiedlich. Bei angeborenen Krankheiten weiss man, dass ein betroffenes Kind erkranken wird und kann sich darauf einstellen. Bei anderen Erkrankungen, nehmen wir die familiäre ­Hypercholesterinämie wieder als Beispiel, kann man frühzeitig Präventionsmassnahmen einleiten. In diesem Fall sollte man ab dem Erwachsenenalter regelmässig den Cholesterinspiegel prüfen, da er normalerweise erst dann steigt. Es kann aber auch sein, dass ein Kind zwei Mutationen geerbt hat und schon mit fünf oder sechs Jahren einen Herzinfarkt erleidet.

Gentests werden heute auch pränatal gemacht. Die Ergebnisse verunsichern viele werdende Eltern. Was soll man tun, wenn die Wahrscheinlichkeit 1:100 beträgt, dass ein Baby eine schwerwiegende Behinderung hat?

Es ist sicher so, dass jeder und jede anders mit einem solchen Resultat umgeht, es gibt die Optimisten und die Pessimisten.

Aber geben Sie in einem solchen Fall eine Empfehlung ab oder zeigen Sie Optionen auf?

Eine Empfehlung gebe ich in diesem Fall nie ab. Die Entscheidungen, die aus einem Gentest resultieren, sind sehr persönlich und individuell. Darüber kläre ich in der genetischen Beratung vor einem Test immer auf. Anders ist es natürlich, wenn es nicht um pränatale, sondern allgemeine präventive Tests geht. Dort hilft das Resultat, konkrete Präventionsmassnahmen zu empfehlen.

Im globalen Vergleich ist die Schweiz, was die Humangenetik betrifft, eher zurückhaltend. Wie erklären Sie sich das?

Das hat sicher mit unserem demokratischen System zu tun. Die Bevölkerung hat etwas zu sagen, und ich verstehe, wenn man in dem Bereich zurückhaltend ist. Mit der Genanalyse kommen Wahrscheinlichkeiten für eine Erkrankung ins Spiel – je nachdem, was man für ein Typ ist, kann das beunruhigend oder auch beruhigend sein. Wenn man beispielsweise weiss, dass man keine krankheitserregende Veränderung in einem der mit Krebs assoziierten Gene hat, obwohl in der nahen Verwandtschaft jemand Brustkrebs hatte, dann ist man froh um dieses Wissen.

Genanalysen sind nicht günstig. Ist die Zurückhaltung des Schweizer Gesundheitswesens bei stets steigenden Kosten nicht auch ein Gebot der Vernunft?

Es ist zu wenig bekannt, dass dank Genanalysen auch Präventivmassnahmen möglich sind. Da müssten die Krankenkassen verstehen, dass sie langfristig sparen könnten. Es gibt Studien im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, dass genetische Analysen im Gesundheitswesen die Kosten tatsächlich senken können. Ob genügend getestet wird, hängt auch von den betreuenden Ärzten ab und wie viel sie über die Bedeutung der Genetik wissen.

Die kassenpflichtigen Untersuchungen sind gesetzlich in der sogenannten Analysenliste geregelt – ist das ausreichend?

Was uns bezüglich Analysenliste wundert, ist der Umgang damit: Es ist eine Positivliste, wir gehen also davon aus, dass das, was darauf steht, auch bezahlt wird. Es gab und gibt aber mehr und mehr Fälle, die trotzdem abgelehnt werden. Dann heisst es, die Kassen müssten jeden Fall einzeln beurteilen. Das bedeutet für uns, dass wir fast keine Analyse in Auftrag geben können ohne Kostengutsprache. Stellen Sie sich vor, wie viel Zeit uns das kostet! Für eine seltene Krankheit habe ich zwei bis drei Stunden, um einen Fall zu beschreiben. Manchmal kommen dann von den Krankenkassen einfach Standardabweisungen zurück.

Bei Herz-Kreislauf-Erkran­kungen und Krebs sind die Krankenkassen am ehesten bereit, Analysen zu übernehmen. Wo wünschen Sie sich mehr Bewusstsein für den Nutzen?

Bei den seltenen Erkrankungen. Gerade was kleine oder ungeborene Kinder betrifft. Es gibt in der Schweiz eine Ungleichheit bei der Pränataldiagnostik: Eine Chromosomenanalyse wird problemloser übernommen als eine Genanalyse, und eine Präimplantationsdiagnose wird überhaupt nicht übernommen. Ich denke, das ist so, weil es die Chromosomenanalyse am längsten gibt und man sich daran gewöhnt hat.

Was sind die Folgen?

Die Eltern müssen die Untersuchungen selbst bezahlen oder darauf verzichten.

In der Bevölkerung stehen viele den pränatalen Gen­analysen skeptisch gegenüber, weil sie unethische Prozesse befürchten, die man überspitzt mit «Wunschkind oder Abtreibung» überschreiben könnte.

Unser Gesetz ist, was die genetischen Untersuchungen betrifft, genau aus diesem Grund sehr streng. Ich sass acht Jahre in der nationalen Ethikkommission, da wurden diese Aspekte immer besprochen, wir haben Stellungnahmen geschrieben, das ist alles ins Gesetz eingeflossen.

Und doch sind die Befürchtungen nicht ausgeräumt.

Die Beratung, Aufklärung ist entsprechend wichtig. Dass man weiss, was die Konsequenzen sein können. Das Gesetz sagt ja jetzt auch: Es gibt ein Recht auf Wissen und ein Recht auf Nichtwissen. Jede Person kann und muss für sich selbst entscheiden, wie viel sie über die genetische Veranlagung wissen möchte.

Funktioniert das in der Praxis? Was, wenn ich etwas über mich herausfinde, meine Eltern aber nichts wissen möchten?

In der genetischen Beratung informieren wir über die Informationspflicht und das Recht auf Nichtwissen. Unsere Patienten und Patientinnen sind dann in der Pflicht, dem nachzukommen.

Das ist doch nicht realistisch. In welchen Fällen besteht eine Informationspflicht?

Wenn sich Eltern abklären lassen und man etwas findet, dann sind sie verpflichtet, ihre Geschwister und Kinder zu informieren, dass eine vererbbare Erkrankung vorliegt und sie diesbezüglich jederzeit eine genetische Beratung und Abklärung in Anspruch nehmen können. Wenn man sie nicht informiert, können sie einem einen Vorwurf machen, wenn sie mal erkranken oder ein krankes Kind bekommen.

Angehörige können einem aber auch einen Vorwurf machen, weil man sie über die Möglichkeit einer genetischen Erkrankung informiert. Lässt man sich abklären, ist man unweigerlich in diesem Dilemma gefangen.

Das denke ich nicht. Das Recht auf Wissen beziehungsweise Nicht-Wissen bezieht sich klar auf die genetische Information an sich. Solange eine Person nicht weiss, dass in der Familie eine Erbkrankheit vorliegt, hat sie auch keine Möglichkeit zu entscheiden, ob sie mittels genetischer Untersuchung herausfinden möchte, ob sie die für die Krankheit verantwortliche Variante geerbt hat oder nicht respektive ob sie bewusst auf dieses Wissen verzichten will.

Was halten Sie von Lifestyle-Gentests, die viele machen, um einen Hinweis auf ihre optimale Ernährung oder Trainingsmethode zu erhalten und die günstig und ohne Beratung verfügbar sind?

Ich bin gar kein Fan. Wenn man die Tests im Ausland macht, weiss man oft nicht, wo die eigenen Daten landen und wofür sie sonst noch gebraucht werden. Zudem können die meisten nichts anfangen mit den Informationen. Für eine Erklärung kommen manche dann zu uns. Wir hatten wegen eines solchen DNA-Tests auch schon total aufgebrachte Patienten hier, die dachten, sie hätten eine genetische Veranlagung für Krebs. Und dann stellte sich das Resultat als harmlos heraus.

Unsere Spezialistin

Prof. Sabina Gallati, Genetik-Expertin.
(Co-Leiterin genomische Medizin, Hirslanden Precise)
©Andrea Zahler / CH Media