Hirslanden Fachartikel

Die drei relevanten und in Presse und Politik zunehmend wahrgenommenen und diskutierten Krankheitsbilder der Muskel-Skeletterkrankungen (MSE) sind die

  1. degenerativen Veränderungen des Knorpels und der damit einhergehende Gelenkverschleiss (Arthrose) mit der Notwendigkeit des operativen Gelenkersatzes insbesondere von Hüft- und Kniegelenk,
  2. Osteoporose mit nachfolgenden Frakturen (besonders häufig hüftgelenksnahe Oberschenkel- und Wirbelkörperfrakturen) sowie
  3. Probleme der alternden Lendenwirbelsäule, also der Bandscheiben, kleinen Wirbelgelenke und des Spinalkanals.

Konservative und operative Therapiemassnahmen der Relevanz dieser drei MSE entsprechend vorzustellen, würde den Umfang dieses Beitrags sprengen. Somit können nur einzelne, aus der Erfahrung und subjektiven Einschätzung der Autorin wichtige Kriterien und Gedankenansätze zum Thema angesprochen werden.

Für den Ersatz von Hüft- und Kniegelenk gelten als Indikationskriterien der interdisziplinären europäischen Leitlinie der European League Against Rheumatism (EULAR) die Richtlinien: «Schmerzen durch konservative medikamentöse und physiotherapeutische Massnahmen nicht mehr zu bessern und radiologischer Nachweis der Arthrose» (Zhang/Doherty/Arden et al. 2005).

Für die Diagnostik und Behandlung der Osteoporose gibt es eine klare S3-Leitlinie (DVO 2009) des interdisziplinären Dachverbandes Osteologie, eine Neufassung wird zur Zeit erarbeitet und 2014 vorgestellt. Für die Behandlung der osteoporotischen Frakturen allerdings gelten die therapeutischen Richtlinien der entsprechenden Fachgesellschaften (Traumatologie, Orthopädie, Handchirurgie, Wirbelsäulenchirurgie usw.). Zum Teil liegen für bestimmte Frakturtypen (z.B. hüftgelenksnaher Oberschenkelbruch) seit langem etablierte Behandlungsstandards vor, für Verletzungen z.B. an Becken oder Wirbelsäule sind allgemeingültige Therapieempfehlungen noch nicht etabliert.

Die Indikationsstellung für konservative oder operative Massnahmen bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule geschieht dagegen eher uneinheitlich und nicht selten von der individuellen Einschätzung und Erfahrung des behandelnden Arztes beeinflusst. Leitlinien zur Versorgung von Patienten mit akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerzen existieren längst auch für Deutschland (BÄK/KBV/AWMF 2010) und sollten zunehmend bei der Behandlung Berücksichtigung finden. Im Weiteren dazu ausführlicher:

Arthrose

Die Behandlung des schmerzhaften Gelenkverschleisses geschieht zunächst immer konservativ (Fernandez/Hagen/ Bijlsma et al. 2013). Mittels physiotherapeutischer und medikamentöser Behandlungsansätze, Bewegungsprogrammen sowie Gewichtsreduktion wird versucht, die entzündliche Aktivität des betroffenen Gelenkes zu minimieren, Schmerzen zu lindern sowie Beweglichkeit und muskuläre Führung des Gelenkes zu erhalten. Erst nach Ausreizen all dieser Massnahmen, zu denen auch Gelenkinfiltrationen zählen, kommen operative Möglichkeiten in Frage. In seltenen Fällen kann die Gelenkbiomechanik verbessert werden, z.B. die Achse am Kniegelenk korrigiert und damit das weitere Fortschreiten der Arthrose verzögert werden. An der Hüfte können – rechtzeitig eingesetzt – arthroskopische Verfahren z.B. durch Stabilisierung der Gelenkkapsel und Abschleifen von Verknöcherungen am Schenkelhals den Funktionszustand des Gelenkes verbessern und ebenfalls dazu beitragen, die Arthroseentwicklung zu verzögern. Als letzte und häufige Therapiemassnahme kommt der Ersatz des Gelenkes durch eine Endoprothese infrage.

Die Anzahl der in Deutschland jährlich implantierten Hüftprothesen bei Arthrose liegt seit 2008 nach den Zahlen des AQUA-Qualitätsreports 2011 relativ konstant bei knapp 160 000, die der Knieprothesen bei ca. 145 000. Hinzu kommt allerdings eine steigende Zahl von Wechseloperationen, für das Jahr 2011 wurden 25 000 Hüft- und 12 500 Knie-TEP-Wechsel gemeldet. Damit liegt Deutschland an der Weltspitze der pro Kopf implantierten Endoprothesen, gefolgt von der Schweiz und Frankreich. Entgegen den Vermutungen der Presse und Politik korrelieren hohe Implantationszahlen räumlich allerdings nicht mit der Dichte an Orthopäden oder mit Grossstädten. Es zeigt sich in dem von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie und der AOK auf den Weg gebrachten Versorgungsatlas eine «mitteldeutsche Schiene» hoher Implantationszahlen, die sich eher durch die ländlichen Regionen von Schleswig-Holstein über Niedersachsen, Hessen und Thüringen nach Bayern zieht (Niethard/Mahlzahn/Schäfer 2013). In den Grossstädten mit ihrer hohen Orthopädendichte wird im Vergleich pro Kopf weniger operiert. Es liegt also eher die Vermutung nahe, dass dort rascher und häufiger operiert wird, wo es an niedergelassenen Orthopäden mangelt, die für eine konservative Therapie der Arthrose konsultiert werden können und die sämtliche konservativen Massnahmen anbieten können. Auch Regionen mit grösserer sozialer Deprivation (neue Bundesländer) zeichnen sich durch niedrigere Operationsfrequenzen aus, Erklärungsansätze hierfür bedürften allerdings weiterer Analysen (Niethard 2013).

Der Frage «Wie viel Medizin braucht der Patient?» gingen der Verband der Universitätsklinika und Medizinische Fakultätentag im April dieses Jahres in Berlin nach. Als Vertreter der Orthopädie beklagte Prof. Klaus-Peter Günther, Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie des Universitätsklinikums Dresden, die in der AWMF-S3-Leitlinie (2009) fixierten Kriterien für die Indikationsstellung einer Endoprothese der Hüfte als zu «weich». Die Entscheidung, wann die Bemühungen um einen Erhalt des natürlichen Gelenkes aufgegeben werden und ein Gelenkersatz angezeigt ist, wird immer im Einzelgespräch zwischen Operateur und Patient fallen, auch berücksichtigend die wachsenden Ansprüche an Mobilität und Schmerzfreiheit der jüngeren Generation. Unbedingt angesprochen werden muss aber im Aufklärungsgespräch die limitierte Standzeit der Prothesen besonders bei den noch jungen, aktiven Patienten, die ihr Gelenk stärker als die älteren benutzen und vielleicht noch im beruflichen Alltag und/oder sportlich aktiv sind. Dies vor dem Hintergrund, dass nach den Erkenntnissen der WHO z.B. eine Frau, die 2010 fünfzig Jahre alt war, eine 50%-ige Chance hat, ihren 100. Geburtstag zu erleben – und damit vermutlich auch noch (mehrere) Revisionseingriffe an der operierten Hüfte oder dem Knie.

Die Arthrosetherapie von früher, als es lediglich galt, Schmerz und Behinderung zu kurieren, wandelt sich von dieser «Altersmedizin» hin zu den Bedürfnissen einer «Lifestyle»-Therapie (Jerosch 2013). Die Patienten erwarten die Wiederherstellung ihrer durch die Arthrose eingeschränkten Lebensqualität und hegen häufig bereits durch Internet und Firmenprospekte unrealistische Erwartungen und sind entsprechend enttäuscht, wenn die Rehabilitation lange braucht und das Kunstgelenk nicht wie das früher gesunde eigene funktioniert. Diesen Erfahrungen gilt es in ausführlichen Gesprächen vorzubeugen, um eine realistische Einschätzung des zu erwartenden Operationsergebnisses beim Patienten zu erreichen.

Osteoporose

Die Osteoporose ist die häufigste Knochenerkrankung im höheren Lebensalter. In Deutschland sollen ca. 5 Mio. Menschen betroffen sein. In 95% der Fälle handelt es sich um eine primäre Osteoporose, die im Gegensatz zur sekundären Osteoporose nicht Folge einer anderen Grunderkrankung ist. 80% aller Betroffenen sind Frauen nach der Menopause, 30% der postmenopausalen Frauen entwickeln eine klinisch relevante Osteoporose und 50% aller weissen Frauen werden in ihrem Leben eine osteoporotische Fraktur erleiden (Josten/Schmidt/Spiegle 2012).

Die häufigsten Folgen der Osteoporose sind Wirbelkörper-Frakturen, die nicht immer als solche erkannt werden, hüftgelenksnahe Frakturen des Oberschenkels, handgelenksnahe Speichen- und Oberarmkopfbrüche sowie Beckenfrakturen. Der dort die Knochenstruktur bestimmende sog. Bälkchenknochen ist leider besonders von der Rarefizierung der Knochensubstanz und dem damit einhergehenden Stabilitätsverlust betroffen.

Jährlich verursacht die Osteoporose 2,5 bis 3 Mrd. Euro an direkten und indirekten Krankheitskosten in Deutschland und wurde zu Recht auf die WHO-Liste der zehn wichtigsten Erkrankungen gesetzt. Ist es einmal zu einer Fraktur gekommen, so ist das Risiko für weitere Frakturen innerhalb eines Jahres um das Acht- bis Zehnfache erhöht. Höchstes therapeutisches Ziel jeder Behandlung ist dann die Verhinderung weiterer Frakturen. Leider wird jedoch immer noch lediglich bei 10 bis 15% der Patienten mit osteoporotischen Knochenbrüchen selbst nach stationärer Behandlung und klarer unfallchirurgischer Empfehlung im Arztbrief eine adäquate Therapie der Osteoporose eingeleitet oder fortgeführt.

Über 100 000 Schenkelhals- und hüftgelenksnahe Oberschenkelbrüche werden jährlich in Deutschland einer Operation zugeführt (AQUA 2011), 230 000 Menschen zwischen 50 und 79 Jahren erleiden jedes Jahr in Deutschland einen Wirbelbruch aufgrund von Osteoporose; insgesamt rechnet man mit über 500 000 Knochenbrüchen bei geriatrischen Patienten pro Jahr. Wirbelbrüche sind zwar nur zur Hälfte symptomatisch, es sinkt jedoch die Lebensqualität mit zunehmender Zahl von Frakturen. Ist es einmal zu einer stationären Behandlung wegen einer Fraktur gekommen, so erhöht sich das Risiko für eine hüftnahe Femurfraktur innerhalb von zwölf Monaten auf das Zehnfache (Kanis/Johnell 1999 2004). Der Stellenwert der Prophylaxe, Diagnose und Therapie der Osteoporose kann somit nicht genug betont werden!

Zur Osteoporoseprophylaxe und -therapie gehört vor allen Dingen körperliche Aktivität, die in jedem Lebensalter vor Knochensubstanzverlust schützt. Ausreichendes Sonnenlicht (eine halbe Stunde pro Tag) fördert die Vitamin-D-Produktion in der Haut und verbessert die Aufnahme von Calcium aus der Nahrung. Wer nicht genügend Calcium (Milchprodukte/Käse) isst und auch keine Sonnenexposition hat (Wintermonate, stete Kopf- und Armbedeckung z.B. aus religiösen Gründen), sollte entsprechend der Richtlinien eine Nahrungsergänzung durchführen. Vitamin D hat ausserdem einen wichtigen Einfluss auf die Sturzprophylaxe, der im Übrigen ein sehr hoher Stellenwert einzuräumen ist (Stolperfallen im Haushalt beseitigen, Sehhilfen tragen, Schuhwerk überprüfen, Medikamentenrevision, Hilfsmittelversorgung etc.). Die amerikanischen und britischen geriatrischen Fachgesellschaften haben gemeinsam eine Leitlinie zur Sturzprävention älterer Personen veröffentlicht (Panel on Prevention of Falls in Older Persons 2011). Wichtige Hinweise auf die zur Abklärung des Sturzrisikos empfohlenen körperlichen Untersuchungen geben Guralnik/Ferrucci/Simonsick et al. (1995), ausgeführt auch im «Empfehlungspapier für das körperliche Training zur Sturzprävention bei älteren, zu Hause lebenden Menschen» von Becker und Blessing-Kapelke (2011) im Auftrag der Bundesinitiative Sturzprävention. Eine entsprechende Umsetzung und Exploration hinsichtlich der klinischen und anamnestischen Risikofaktoren für die Entwicklung einer Wirbelkörper- und hüftgelenksnahen Femurfraktur erfolgt in der Regel durch den Hausarzt oder spezialisierten Osteologen. Dieser entscheidet, ob eine Knochendichtemessung und/oder eine Röntgenuntersuchung zur Frage bereits stattgefundener Frakturen der Wirbelsäule angezeigt sind. Bei Frakturen, klinischen Hinweisen oder einer niedrigen Knochendichte wird die Diagnostik durch spezielle Laboruntersuchungen ergänzt. Der osteologisch ausgebildete Arzt entscheidet danach, ob eine Behandlung erfolgen muss.

Die Pharmakotherapie der klinisch relevanten Osteoporose ist gut mit Studien zur Wirksamkeit der Frakturvermeidung belegt. Als Standard gilt z.B. eine maximal fünf Jahre durchzuführende Einnahme eines Bisphosphonates zur Knochenresorptionshemmung, alternativ kommen auch andere Pharmaka in Betracht (sog. SERMs, Parathormonanaloga, Strontiumranelat, Denosumab). Sind bereits Frakturen eingetreten, so gilt es, Schmerzen und funktionelle Einschränkungen rasch zu beseitigen und eine schnellstmögliche Mobilisierung zur Vermeidung von Folgekomplikationen einzuleiten. Die operative Versorgung eines Oberschenkelbruches durch eine Osteosynthese oder Endoprothese ist meistens indiziert, nur selten können osteoporotische Frakturen ohne Operation ausheilen und das Bein sogleich wieder belastet werden.

Akute Wirbelkörperfrakturen hingegen bedürfen nur zu einem Teil einer operativen Stabilisierung, obwohl hier in den letzten Jahren mit der Etablierung minimalinvasiver, aufrichtender Therapieverfahren vielerorts eine Tendenz zur frühen Stabilisierung zu beobachten ist und diese Eingriffe auch zunehmend häufiger durchgeführt werden. Ziel dieser Operationen (Vertebro-, Kyphoplastie) ist es zum einen, den häufig immobilisierenden Frakturschmerz zu beenden, zum anderen aber auch, das sagittale Profil der Wirbelsäule wieder aufzurichten bzw. zumindest so zu stabilisieren, dass in der Folge weitere Frakturen durch die biomechanische Mehrbelastung der vorderen Anteile der Wirbelsäule durch den entstandenen Rundrücken («Witwenbuckel») möglichst verhindert werden.

Die Entscheidung, ob, wann und wenn ja welche operative Stabilisierung der Wirbelsäule erforderlich ist, sollte dem erfahrenen Wirbelsäulenchirurgen überlassen bleiben. Dieser wird mit Augenmass und in Kenntnis des Allgemeinzustandes und der Begleiterkrankungen seines häufig ja sehr betagten Patienten entscheiden und dies mit ihm und ggf. seinen Angehörigen in Ruhe besprechen. Eine enge Zusammenarbeit mit internistisch-geriatrisch ausgebildeten Kollegen ist wünschenswert. Die operative Versorgung osteoporotischer Wirbelkörperfrakturen muss allerdings nur in den seltensten Fällen tatsächlich sofort und notfallmässig wegen drohender neurologischer Komplikationen erfolgen. In der Regel ist keine Eile geboten und, es kann z.B. auch eine Zweitmeinung eingeholt werden. Die momentan noch gültigen DVO-Richtlinien sehen eine drei- bis vierwöchige Phase der konservativen Therapie einer osteoporotischen Wirbelkörperfraktur vor, bevor bei ausbleibender Schmerzlinderung vertebrooder kyphoplastiert werden sollte. Hier wird allerdings eine Modifikation in der 2014 aktualisierten DVO-Richtlinie erwartet, die dem biomechanischen Aspekt des Wirbelsäulenprofils in der Frakturprophylaxe mehr Bedeutung beimisst und eine Wartezeit nicht mehr vorsieht. Je früher nämlich eine Aufrichtung erfolgen kann, desto besser ist häufig das operative Ergebnis und umso schneller kehrt der Patient wieder in seine Alltagsaktivität zurück.

Kreuzschmerz

Die allgemein längere Lebenserwartung führt zu einem längeren Leben mit den Beschwerden chronischer Erkrankungen, in Deutschland sind MSE für 21,3% der «Years lived with Disability» verantwortlich, Rücken- und Nackenschmerz und andere MSE sind erstmals unter den TOP Ten der durch Krankheit verlorenen Lebensjahre (Murray/Vos/Lozano et al. 2013). Hinsichtlich der durch Tod und Einschränkung der Lebensqualität verlorenen Lebensjahre rangieren die MSE auf Platz drei in Deutschland, mit zunehmender Tendenz aufgrund der weiteren Alterung, zunehmender Adipositas und Mangel an körperlicher Aktivität (Dreinhöfer 2013). Entsprechend hoch ist die Inzidenz von degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule. Die Diagnose «Rückenschmerz» führt die Morbiditätsstatistiken an und in der primärärztlichen Praxis gehören Rückenschmerzen zu den häufigsten Beschwerden der Patienten. Die Punktprävalenz beträgt 33%, die Einjahresprävalenz 65% und die Lebenszeitprävalenz 84%. An intensiven oder gar mit Funktionsbeeinträchtigungen einhergehenden Rückenschmerzen leiden 20% der deutschen Erwachsenen, 10% geben Schmerzen mit hoher Intensität und Beeinträchtigung an (Schmidt/ Kohlmann 2005). Eine Annäherung an das Problem geschieht nicht nur durch Orthopäden, sondern zunehmend auch durch Hausärzte, Allgemeinmediziner und Schmerztherapeuten. Für den Verlauf der Erkrankung ist es von evidenter Bedeutung, sog. unspezifische Rückenschmerzen von Krankheitsbildern zu unterscheiden, die einer gezielten Therapie, ggf. auch einer Operation zugeführt werden müssen. Hauptziel aller Bemühungen ist es, Chronifizierung von Schmerzen zu vermeiden, nachdem schwerwiegende Erkrankungen als Ursache für die Rückenschmerzen ausgeschlossen wurden.

Evidenzbasierte Leitlinien und Empfehlungen wurden hierfür erarbeitet, so etwa die Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz (2010). Unspezifische Kreuzschmerzen heilen glücklicherweise in 85% der Fälle spontan, die Ursache bleibt oft unklar. Spezifische Kreuzschmerzen müssen gezielt behandelt werden, nicht selten auch operativ. Im Rahmen einer diagnostischen Triage durch den Arzt werden Patienten mit Alarmzeichen und Belastungsfaktoren für eine mögliche Chronifizierung diagnostiziert und einer entsprechenden Therapie zugeleitet. 8 bis 10% der Patienten mit Rückenschmerzen erleben eine Chronifizierung. Wenn also die Schmerzen nicht binnen zwölf Wochen abklingen, droht vielleicht ein langer Leidensweg. Die nicht seltene Komorbidität mit psychischen Erkrankungen (insbesondere Depression und Angstneurosen), anderen Erkrankungen des Bewegungsapparates oder kardiovaskulären Erkrankungen ist bekannt (Schneider/Mohnen/ Schiltenwolf et al. 2007), sodass es gerade zu Beginn der Erkrankung von grosser Bedeutung ist, den unspezifischen Rückenschmerz möglichst rasch von spezifischen Krankheitsbildern zu unterscheiden, die einer gezielten Therapie zugeführt werden müssen (Eckardt 2011). Erforderlich hierfür ist nicht selten neben der immer notwendigen sorgfältigen Anamneseerhebung ein wenn möglich multidisziplinärer Diagnostikansatz mit entsprechend nachfolgender multimodaler Behandlung. Leider sind die Voraussetzungen hierfür nicht überall gegeben, obwohl auch die Leistungsträger zunehmend von der Problematik Kenntnis nehmen. Bei der ersten Konsultation eines Patienten mit Rückenschmerzen sind vom Arzt die drei folgenden Fragen zu klären:

  1. Liegt eine gefährliche Erkrankung vor, z.B. Tumor, Fraktur, Entzündung (sog. rote Flaggen)?
  2. Gibt es Hinweise für eine Nervenkompression wie dermatombezogene Schmerzausstrahlung, Gefühlsstörungen, Lähmungen (ebenfalls rote Flaggen)?
  3. Finden sich Hinweise auf Chronifizierungsfaktoren (gelbe Flaggen, z.B. psychische Disposition, depressive Verstimmung, Familien- und Arbeitsplatzprobleme, Angststörungen, Rentenbegehren u.a.)?

Bei Alarmzeichen (roten Flaggen) sind eine sofortige weitere Abklärung, in der Regel mittels MRT der Wirbelsäule, und entsprechende Therapieeinleitung zumeist in einer spezialisierten Abteilung für Wirbelsäulenchirurgie erforderlich.

Eine eindeutige, notfallmässige Operationsindikation besteht bei Blasen-Mastdarm-Lähmungen und auch progredienten Lähmungen von wichtigen Muskeln. Nicht selten müssen osteoporotische Wirbelkörperbrüche einer aufrichtenden und stabilisierenden operativen Therapie zugeführt werden, nicht nur, wenn eine Verlegung des Spinalkanals resultiert mit konsekutiven Lähmungen, sondern auch wenn durch Veränderung des sagittalen Profils der Wirbelsäule weitere Frakturen zu befürchten sind oder chronische Schmerzen resultieren. Bei diesen eindeutigen, häufig notfallmässigen und damit sog. absoluten Operationsindikationen ist das Einholen einer Zweitmeinung in der Regel überflüssig, kostet unnötig Zeit und würde hierdurch vielleicht im Einzelfall sogar das operative Ergebnis verschlechtern. Bei den sog. relativen Indikationen ist das Einholen einer Zweitmeinung jedoch häufig empfehlenswert. In der Regel profitiert der mündige und durch die längere Leidenszeit schon gut informierte Patient von einer Beratung durch einen weiteren Spezialisten/Operateur und kann seine Entscheidung für oder gegen eine Operation in Ruhe abwägen.

Tatsächlich ist die Entscheidung, wann und in welchen Fällen bei Patienten z.B. mit degenerativen Veränderungen, einem Wirbelgleiten oder Bandscheibenvorfall ohne neurologische Ausfälle eine Operation durchgeführt werden soll, nicht immer einfach zu treffen. Die erfordert in der Regel ein längeres Gespräch und eine Evaluation verschiedener Begleitumstände, was unter Umständen allerdings bei einer einmaligen, ersten Konsultation gar nicht möglich ist.

Mit wachsender Beunruhigung und Kenntnisnahme durch die Medien wird der Anstieg der Wirbelsäuleneingriffe in Deutschland beobachtet. So wurden 2005 noch 97 000 Eingriffe bei den AOK-Versicherten gezählt, im Jahre 2011 hingegen mehr als 220 000 (Schäfer/Pritzkuleit/Hannemann et al. 2013). Dieser Anstieg erklärt sich zum Einen nicht allein durch die ja glücklicherweise zunehmende Zahl an Zentren mit operativer Kompetenz in Wirbelsäulenchirurgie, es ist zumindest nicht auszuschliessen, dass die relativ gute Vergütung dieser Eingriffe im Fallpauschalensystem bei dieser Entwicklung auch eine Rolle spielt.

Ist also die Entscheidung für eine Operation an der Wirbelsäule nicht notfallmässig indiziert, sondern Ausdruck des Versagens der konservativen Therapieoptionen, so sollte dem Patienten die Möglichkeit der Einholung einer Zweitmeinung ermöglicht und auch durch den Operateur empfohlen werden. Auch hier gilt es, in Ruhe und ausführlichen Gesprächen die realistischen Erwartungen an den Erfolg einer Operation zu besprechen.

In der konservativen Behandlung unspezifischer akuter Rückenschmerzen sind nach den Leitlinien folgende Massnahmen relevant:

  • Anamnese und klinische Untersuchung zum Ausschluss von roten Flaggen und damit «spezifischen» Ursachen für die Beschwerden
  • psychosoziale Chronifizierungsfaktoren wenn möglich primär mit erfassen
  • in den ersten vier Wochen keine Röntgen- oder MRT-Untersuchung (Ausnahme: Hinweis auf spezifische Rückenschmerzen!)
  • den Patienten ausreichend über die Gutartigkeit der Erkrankung aufklären
  • keine Bettruhe, wenn schmerzbedingt nicht möglich, längstens zwei bis drei Tage, der Patient soll aktiv bleiben
  • ausreichende Versorgung mit Schmerzmitteln
  • Erarbeitung eines physiotherapeutischen Übungsprogramms, manuelle Therapie, evtl. Akupunktur
  • nach vier Wochen Reassessment, gezielte fachärztliche Untersuchung und Therapie, frühzeitig auch psychotherapeutische Mitbetreuung erwägen zur Chronifizierungsvermeidung
  • rasche Einleitung eines multidisziplinären Evaluations- und Behandlungsprogramms in spezialisierten Zentren für alle Patienten, die innerhalb von vier bis acht Wochen nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und für diejenigen, die Hinweise für eine Chronifizierungstendenz bieten

Dauern die Beschwerden länger an, werden zur Diagnostik und Therapie chronischer, d.h. länger als zwölf Wochen andauernder, unspezifischer Rückenschmerzen die weiteren diagnostischen und therapeutischen Massnahmen empfohlen:

  • Anamnese und klinische Untersuchung zum Ausschluss von roten Flaggen
  • auch bei wiederholter Vorstellung des Patienten muss der Arzt bereit sein, die Diagnose zu hinterfragen
  • gelbe Flaggen erfassen, um das Chronifizierungsrisiko bzw. den Chronifizierungsgrad zu validieren
  • Röntgen – ohne dass altersentsprechende degenerative Veränderungen überbewertet werden sollten und der Patient durch den Arzt ggf. verunsichert oder stigmatisiert wird
  • MRT zur Abklärung/zum Ausschluss von spezifischen Beschwerdeursachen (Entzündung, Bandscheibenvorfall, Fraktur, Metastasen)
  • spätestens nach acht Wochen spezialisierte ambulante, teilstationäre oder stationäre multimodale und interdisziplinäre Therapie

Leider liegt eine Unterversorgung mit spezialisierten Zentren und besonders auch psychosomatischen Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten vor. Orientierend seien einige Massnahmen vorgestellt, die als Behandlungsansätze bei chronischen Rückenschmerzen in Frage kommen:

  • Physiotherapie mit Erarbeitung eines individuellen Übungsprogramms als Therapie der ersten Wahl
  • Verfahren mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen, auch Gruppentherapie
  • Anbieten einer Serie Manualtherapie
  • Patientenaufklärung und Motivation zu Bewegungsprogrammen und Rückkehr in normale Aktivitäten, Reduktion von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder gar Berentung, offene Gespräche über Behandlungsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten
  • Verhaltenstherapie, psychologische Mitbetreuung, bei Somatisierungsstörung auch psychosomatische oder psychotherapeutische Mitbetreuung des Patienten
  • multidisziplinäre, biopsychosoziale stationäre Rehabilitation, wenn vorherige Therapien versagt haben
  • medikamentöse Schmerztherapie
  • invasive Massnahmen (epidurale Applikation von Kortison, Nervenwurzelblockaden, Facettgelenksinfiltrationen) nur dann, wenn hier eine entsprechende Pathologie vorliegt. Der ungezielte Einsatz von Infiltrationen jeder Art bei unspezifischem chronischen Rückenschmerz ist obsolet!

Insgesamt ist natürlich der Prävention von Rückenschmerzen mehr Bedeutung beizumessen. Die Patienten sollten weg von biomechanischen Modellen der Schmerzentstehung und alleinigen Rückenschulprogrammen hin zu mehr Aktivität, Eigenverantwortung und Eigenübungsprogrammen geführt werden. Auch eine Aufklärung über den Einfluss biopsychosozialer Faktoren auf das chronische Schmerzgeschehen ist sinnvoll (Eckardt 2012). Dies kann hoffentlich auch dazu beitragen, dass die Anzahl überflüssiger Operationen mit entsprechend schlechten Erfolgsaussichten – die möglicherweise durchaus auch auf Drängen der Patienten angeboten werden – zurückgeht.

Der Arzt befindet sich in doppeltem Dilemma, denn nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Krankenhausträger nicht selten den Erfolg der Abteilung und damit verknüpft das Salär des Chefarztes über hohe Operationsfrequenzen definieren. Gleichzeitig ruft die Aussage «Da gibt es nichts zu operieren» beim chronischen Rückenschmerzpatienten nicht selten Enttäuschung und das Gefühl, mit seinen Beschwerden nicht ernst genommen zu werden, hervor.

Wünschenswert wäre für die Zukunft eine zunehmend flächendeckende, intensivere Kooperationen mit Psychologen und Psychosomatikern wie auch eine bessere Akzeptanz entsprechender Mitbetreuung bei den Patienten.

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